Czernowitzer Deutsch, gab es das?


Der Versuch einer Annäherung
Man frage in Deutschland, wen und wo man will "Wo wird das reinste Hochdeutsch gesprochen?" Die Antwort fällt immer gleich aus: "in Hannover". Das ist so nicht korrekt.
Richtig ist, daß im Raum Hannover das akzentfreieste Deutsch gesprochen wird. Jedoch nicht HOCHdeutsch sondern NIEDERdeutsch.
Kann eine ganze Nation irren? Einerseits nein, wenn man Hochdeutsch als ideale, gesprochene Umsetzung von Schriftdeutsch betrachtet. Andererseits ja, wenn man die sprachwissenschaftliche Definition zugrunde legt.

Bevor ich mich jedoch meinem Thema widme, gestatte man mir zu begründen, weshalb ich diese Frage überhaupt aufgreife, die ja ob ihrer Wichtigkeit wahrlich niemandem vom Hocker reißen kann.
Einerseits: In meinem ReiseBLOG lautet das Hauptthema "Czernowitz, jüdische Stadt deutscher Sprache". Und andererseits wurde im Januar 2014 auf der Czernowitz-Liste eine Diskussion entfacht, in der es um das Deutsch geht, das in Czernowitz gesprochen wurde. Es ist von Österreichisch-Deutsch, von Wiener Deutsch, von Habsburger Deutsch, von Hochdeutsch, Bukowiner Deutsch und von Czernowitzer Deutsch die Rede. Ein wahres Potpourri an Definitionen [1], wie aus dem Anhang ersichtlich wird.
In vielen Bespielen und Anekdoten wird geschildert, welche Erfahrungen man persönlich gemacht hat, was von Eltern und Großeltern tradiert worden ist und welche Schlüsse man aus eigenem Erleben und eigener Erkenntnis zieht.

Doch die Diskussion endete ohne abschließendes Ergebnis. Mir war zumute wie dem armen Faust "Da steh' ich nun ich armer Tor und bin so klug als wie zuvor". Um das zu ändern, habe ich mich auf Spurensuche begeben. Ich habe versucht, mein Schul- und Studienwissen zu reaktivieren und habe dazu natürlich das eine oder andere Hilfsinstrument eingesetzt. Es war verblüffend, wieviel längst verschollen geglaubtes Erlernte wieder ans Tageslicht kam.

Um der Antwort auf die Frage nach dem Deutsch, das in Czernowitz gesprochen wurde, näher zu kommen, sollte mir nichts anderes übrigbleiben, als mich nach Jahrzehnten wieder mit der germanistischen Linguistik auseinanderzusetzen.

Hochdeutsch? Was ist das denn nun?
Kehren wir zurück nach "Hannover". Die im allgemeinen Sprachgebrauch für die deutsche Standardsprache geläufige Bezeichnung Hochdeutsch hat in der germanistischen Sprachwissenschaft eine völlig andere Bedeutung. Mit Hochdeutsch bezeichnet die Sprachwissenschaft die Gruppe von Mundarten in Mittel- und Süddeutschland, die durch die "Benrather Linie" [2] vom Niederdeutschen abgegrenzt ist und die zusammengenommen das hochdeutsche Sprachgebiet bildet.


Dialekte im deutschsprachigen Raum [3]

Der deutsche Sprachraum ist also unterteilt in den niederdeutschen und den hochdeutschen Bereich. "Nieder" und "hoch" stehen hierbei nicht für z.B. "ungebildet" und "gebildet" sondern orientieren sich - wie gesehen - schlicht und einfach an der Geographie. Das "Nieder" bezieht sich auf die Niederdeutsche Tiefebene, das "Hoch" auf die südlich anschließenden Mittel- und Hochgebirgslandschaften. Erstmalig ist diese Unterscheidung belegt zur Mitte des 15.Jahrhunderts, als es in zwei Schriftstücken heißt: "Uut hoghen duutsche ghetransfereert" bzw. "vanden hooghen duutsche int neder duutsche." [4]
Die Benrather Linie verläuft in West-Ost-Richtung entlang der Nordhänge der Mittelgebirge vom heute belgischen Eupen
bis ins frühere Ostpreußen, wo sie die Dialektgrenze zwischen Niederpreußisch und Hochpreußisch bildet.
Eine zweite, die Speyerer (oder Main-) Linie trennt den nördlichen Teil des hochdeutschen Sprachbereiches, den mitteldeutschen Dialektraum vom südlichen, oberdeutschen Dialektraum.

Seit wann gibt es eine deutsche Einheitssprache?
Von einer "deutschen Schriftsprache" und einer "deutschen Standardsprache" läßt sich erst seit Martin Luthers Bibelübersetzung der griechischen Urfassung ins Deutsche sprechen. Alle schriftlichen Zeugnisse davor, seien sie in Alt- und Mittelhochdeutsch, führten nicht zu einer von der Bevölkerung adaptierten gemeinsamen Sprache. War doch das Althochdeutsche den Kanzleien und Klöstern, das Mittelhochdeutsche dem Adel und der höfischen Literatur vorbehalten.

Luther legte erstmalig gemeinsame Schreibnormen für die unterschiedlichen Dialekte der diversen Stämme fest. Er selbst hat den Prozeß so beschrieben:
"man mus nicht die buchstaben inn der lateinischen sprachen fragen, wie man sol Deutsch reden, wie diese esel thun, sondern, man mus die mutter jhm hause, die kinder auff der gassen, den gemeinen man auff dem marckt drumb fragen, und den selbigen auff das maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetzschen, so verstehen sie es den und mercken, das man Deutsch mit ihnen redet." [5]

NB: Unabhängig hiervon, jedoch zeitlich parallel emanzipierte sich das aus dem Mittelhochdeutschen hervorgegangene Jiddisch als eigene Sprache [6].

Was kam nach dem "lutherischen" Deutsch?
Halten wir als Zwischenergebnis fest, daß sich ab der Mitte des 16. Jahrhunderts eine einheitliche, wenn auch nur in groben Umzügen definierte Schreibform verbreitete, die auf der lutherischen Bibelübersetzung beruhte. Diese "Sächsische Kanzleisprache", die - abwertend "Lutherdeutsch" genannt, wurde bei allen verbleibenden dialektischen Unterschieden lingua franca der reformierten Regionen.

Im Zuge der Gegenreformation versuchten Jesuiten und Benediktiner für die katholische Kirche in den am "wahren Glauben" festhaltenden Gebieten dem Kursächsischen eine Oberdeutsche Sprachversion entgegenzustellen, die auf der Maximilianischen Kanzleisprache [7] fußte und sich im Gegensatz zur mitteldeutschen Grundtenor des "Lutherdeutsch" stärker an dem gesprochenen Idiom des Oberdeutschen orientierte. Dieses, von den Reformierten - ebenso abwertend - "Jesuitendeutsch" genannt, blieb bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts die offizielle Sprache der baierisch-österreichischen Lande.

Sprachveränderung innerhalb des habsburgischen Imperiums
Die Nutzung des "Jesuitendeutsch" endete abrupt nach dem verlorenen Siebenjährigen Krieg, der eine geschwächte politische Macht Habsburgs zur Folge hatte. Kaiserin Maria Theresia sah keinen Weg zu einer eigenständigen, oberdeutschen Sprachnorm mehr und entschied, stattdessen die Gottsched'sche Grammatik [8], einzuführen. Diese war 1748 erschienenen und hatte sich vornehmlich in den protestantischen Gebieten schnell verbreitet und durchgesetzt.

Damit war das Ende der oberdeutschen Schreibsprache, des "Jesuitendeutsch", besiegelt. Gefestigt wurde das Ende durch die Einführung der allgemeinen Schulpflicht in den habsburgischen Erblanden im Jahr 1774.

Als dann Kaiser Joseph II. 1780 die neue Sprachnorm bestätigte und sie für alle Beamten der kaiserlichen Verwaltung verpflichtend vorschrieb, kann man 1780 das das Geburtsjahr der deutschen Standardsprache ansehen.

Nun endlich zur Ausgangsfrage zurück: Welches Deutsch sprach Czernowitz?
1774 besetzte Österreich-Ungarn die Bukowina ohne Einsatz kriegerischer Mittel. Nach den Jahren der Militärverwaltung bis 1786 und der Zugehörigkeit zum (österreichischen) Königreich Galizien und Lodomerien wurde die Bukowina 1849 eigenständiges Kronland mit eigener K.K.-Statthalterei in Czernowitz.

Der kaiserliche Hof entsandte Lehrer, Verwatungsbeamte, Militär und Polizei in die neu akquirierten Gebiete, kurz, die gesamte Vertreterschaft des Kaiserreiches. Und mit ihnen kamen die österreichisch-deutschen Dialekte des oberdeutschen Sprachbereiches nach Czernowitz.

Kein Dialekt dominierte. In Czernowitz und der Bukowina verständigte man sich in einer Sprachmischung aus allen Regionen, denen das Haus Habsburg eine gemeinsame Staatsform gegeben hatte: Tschechien und Tyrol, Venetien und Kärnten, Slawonien und Slowenien, die Steiermark und natürlich Wien.

Es gehört zu den allgemeingültigen Erkenntnissen, daß sich dort, wo verschiedene Dialekte aufeinanderstoßen und wo auf Augenhöhe miteinander kommuniziert werden muß, dialektische Besonderheiten und Absonderlichkeiten abschleifen. Es entsteht ein gemäßigter Dialekt, der die größten Eigenheiten der Urdialekte verliert und zu einer eigenen Sprechnorm findet.

Entstanden aus den Konsequenzen der politischen Verhältnisse im 19. Jahrhundert, ist in und um Czernowitz eine Variante des Deutschen entstanden, die von den jüdischen und deutschen Einwohnern als lingua franca gesprochen und gepflegt wurde, das Czernowitzer Deutsch: eine an das allgemeingültige Standarddeutsch des deutschen Sprachraums angepaßte, fast dialektfreie Spielart des Deutschen, mit typisch österreichischer Sprachmelodie, vermischt mit und angereichert durch Lehnwörter und Floskeln aus dem Sprachschatz der ortsansässigen Bevölkerungsgruppen, in erster Linie aus dem Jiddischen.

Ob meine Analyse der Wirklichkeit standhält? Wieder ist es Hardy Breier, der in einer Reaktion auf eine zum Holocaust-Gedenktag (27.1.) bei YouTube eingestellte Ansprache von Ruth Gold schreibt: "This is Czernowitzerisch, nobody does it better than Ruth Gold. When I hear the sweet sound, I am home again... This was spoken naturally. Hochdeutsch we spoke compulsory and not very successfully."
Dieser Ausschnitt aus ihrer Videobotschaft mag zur Klärung beitragen [9].

© Friedrich J. Ortwein
Januar 2014



[1] Hardy Breier kommentiert die Diskussion in der ihm eigenen, kompromißlosen Treffsicherheit: "Never have so many written so much about something they [k]now so little." (Cz-L; Beitrag vom 16.1.)
[2] Benrath liegt 12 km südlich vom Düsseldorfer Zentrum (heute Düssledorf-Benrath) und 30 km nördlich von Köln
[4] Luc de Grauwe "Theodistik" S. 136f in R. Bentele u.a. (Hrsg.) "Die Deutsche Schriftsprache und die Regionen" Berlin 2003
[5] Martin Luther "Sendbrief vom Dolmetschen" vom 15.9.1530
[6] Einzelheiten hierzu niederzulegen, maße ich mir nicht an. Stattdessen verweise auf diesen Artikel
[7] Kaiser Maximilian I. von Habsburg (1459-1519)
[8] Johann Christoph Gottsched (1700-1766)
[9] Das gesamte Video (Dauer 13:38'), in dem Ruth Gold ihre leidvollen Erfahrungen als Deportierte in Transnistrien schildert und die Schlußfolgerungen, die sie daraus gezogen hat, kann hier bei YouTube abgerufen werden.




Wer sich intensiv mit der Sprache der Bukowina und Czernowitz' auseinandersetzen möchte, dem sei "Bukowiner Deutsch", eine Grammatik von 1901 [Hrsg.: T. Gartner, A. Polaschek u.a. für den Deutschen Sprachverein - Zweigverein Bukovina; Schulbucher-Verlage Wien] empfohlen. [Anm.: Die beste Wiedergabe bringt Adobe Acrobat Professional; das Laden der Datei kann etwas dauern]
Hier eine Leseprobe aus Seite 18:
Das gesamte Werk steht HIER zum Download bereit.

Alle folgenden Beiträge sind der Czernowitz-Liste (Cz-L) entnommen
BG am 13.01.
"High-German" (Hochdeutsch) is the name for the official literary language - but it´s not just one, there are (minima) three of them: German German, Austrian German and Swiss German. They all belong to the same group, are pretty much the same, but differentiate in some small points (in grammar, but most auf all in lexik).
All of these three "High-Germans" are subdivided into several dialects and regiolects. Each of them with an own pronunciation, just spoken and in the border regions a broader lexik, mostly extended with loanwords from the surrounding languages. In case of bukowinian austrian german it is a quite clear dialect, with many loanwords out of yiddish, romanian and ukrainian.

HaB am 13.01.
The "ch" and the Umlaute if not acquired at a very early age can never be taught. I believe it has something to do with the development of the larynx. Ask a German to pronounce "Muenchen" and try imitate him. This is the real Czernowitzer test. The Czernowitzer got it! If he is of the Habsburg stock.

EG am 13.01.
I have started to teach myself German. I remember my mother said this was her first language until Kindergarten. She said my Grand mother (from Czernowitz) spoke High German and pretended she could not understand Yiddish. ... My questions are, what is High German, was that the dialect of German that was taught in Czernowitz, and how was the word "ich" pronounced? --Danke

AH 14.01.
Three ... were older Austrians who had just arrived from Vienna so I listened to them and simply imitated them but to me they sounded pretty much like Czernowitzers. Now there is a German woman in my apartment building today who comes from Berlin and I can hardly understand her. Her German to me sounds like cockney must sound to an Oxford grad. I get the sense that most German speaking Czernowitzers spoke Hochdeutsch.

AT am 14.01.
I arrived Israel in 1950 at the age of 9. We were invited to stay with a German speaking family. Then I discovered for the first time that they all call "eine tomate" that vegetable that we, at home
called "ein paradeisappfle".

MT am 14.01.
Austrian German includes a lot of French words, or at least words of French origin. Such as "troittor" for sidewalk instead of Fussgaengersteg in German German, Or "bandage" instead of Binde or Verband. In Czernowitz, those who were reasonably well educated spoke Austrian German, or at least strove to do so.

MT am 14.01.
The Viennese have their own dialect and pronunciation, which is different from the way we spoke in Czernowitz. But Czernowitzer Deutsch is very similar to Austrian German, both in pronunciation and the use of words.

CF am 15.01.
I left on a Czech armoured train in 1944....and born November 1936. At home we spoke Czernowitzer Deutsch, never Yiddish or Romanian. My mother spoke it perfectly but not with me!! All my friends spoke German as did our neighbours. And so I just never got Romanian!

GW am 15.01.
As to language - My father spoke excellent German with a light Czernowitz Austrian accent, having studied and spent years in Vienna and Switzerland. He understood a little Yiddish of course, but would not speak it. My mother spoke typical Czernowitz German, and with two of her three sisters, as soon as they started talking they would switch to Yiddish. With the others, she spoke German. At home, we always spoke German, in Romania and in England.

FG am 15.01.
My experience was very similar. We spoke German at home and always, with any of our family. ...I used to know Yiddish, but it becomes German when I try to speak it.

CF am 16.01.
I received this morning my copy of "Bukowiner Deutsch", originally published in 1901 at a cost of 30 Heller! Having spent a large part of the day reading it......well,I thought I spoke a good Hochdeutsch....and I do not!! I speak a good Czernowitzer Deutsch.

HaB am 17.01.
In 1871 the states of Germany unified. Speaking different germanic languages they needed a all understood media, so that a Bavarian could read a Berlin paper, so that a Wurtemberg student can study at a Hamburg university. And later Radio, theatre, books, parliament. So they created an artificial language Hochdeutsh. But how did Schiller and Goethe write in a language I can understand much before that?

HeB am 19.01.
Hi Hardy, I told you already that you are a poet, like many Czernowitzer. I believe that none of the anciant Austrian towns like Lemberg, Zagreb or the Croatie, or Serbia were so Austrian and with the predominant German language like Czernowitz. May be because there were 12.000 Germans or because the Jews were very attached to Austria???

... und abschließend nochmals HB am 17.1.
"There is no such thing as Good- Czernowitzer-Deutsch.
If it is Good and Deutsch - it cannot be Czernowitzer,
If it is Czernowitzer and Deutsch - it cannot be good.
If it is good and Czernowitzer - it cannot be Deutsch"

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